Im Folgenden soll anhand der ersten drei Takte der Orgel-Sonate in A-Moll von Francesco Gasparini demonstriert werden, wie die praktische Anwendung der Reverse Engineering-Technik in der Musik konkret aussehen kann.
Ich habe in diesem Rahmen die ersten drei Takte dieser Sonate ausgewählt, da sie zur systematischen Demonstration der Reverse Engineering-Technik besonders geeignet sind.
Ihr Aufbau ist durch die imitatorisch-sequenzartige Struktur klar und übersichtlich und auch für Anfänger leicht verständlich.
Die sequenzielle Struktur der ausgewählten Takte ermöglicht eine eigenständige Weiterführung mit relativ simplen Mitteln und vermag so die Lust auf Weiterführung sowie die Fantasie des Spielers
besonders direkt anzuregen.
Durch den anschließenden Vergleich der eigenen Weiterführung mit dem tatsächlichen Fortgang des Stückes bei Gasparini wird das Gespür für kompositionstechnische Entscheidungen geschärft, welches sowohl für die Improvisation als auch für die Interpretation historischer Werke von Bedeutung ist.
Die ersten drei Takte der Sonate lauten:
Im Rahmen eines Reverse Engineering wird zunächst die Satzstruktur analysiert und der Satz so weit als möglich reduziert, um das Gerüst der vorliegenden Komposition festzustellen.
Ich beschränke mich aufgrund der imitatorischen Struktur der ausgewählten Takte hier auf die melodische Analyse der zweistimmigen, kontrapunktischen Komposition und klammere die harmonische Analyse zunächst aus.
Als erster konkreter Arbeitsschritt bietet sich an, die einzelnen Stimmen zu „entstrukturieren“, d.h. etwaiger Figurationen zu "entkleiden".
Gleich bei der ersten Achtelfigur (Tribrachys: u u u), die sich im Verlauf mehrmals auf unterschiedlichen Tonstufen wiederholt, wird eine harmoniefremde Note - in diesem Falle eine Komissura (Wechselnote) - sichtbar, im Beispiel durch ein * gekennzeichnet:
Entfernt man in einem ersten Schritt der Reduktion diese Wechselnote, wird der Tribrachys zum Trochäus ( - u):
Durch das Wegkürzen der Wechselnote entsteht zugleich eine Tonwiederholung, die ebenfalls für das pure Gerüst überflüssig ist:
Das folgende Beispiel zeigt nur noch den Gerüstton, der durch die Herausnahme der Tonrepetition entsteht: Die zweite Achtelfigur wird nun ebenfalls einer Reduktion unterzogen.
Sie bewegt sich stufenweise aufwärts und enthält ebenfalls eine harmoniefremde Note, in diesem Fall einen sogenannten Transitus * (Durchgangsnote):
Entfernt man diese Durchgangsnote, erhält man folgenden Satzverlauf:
Die übrig gebliebenen Achteln verbinden den aufwärts gerichteten Sekundschritt (bei der ersten Figur h-c) mittels Superjectio * (Überwurf):
Entfernt man auch diese Figur, erhält man ein auf punktierte Viertel reduziertes Gerüst:
Auch diese Version enthält noch eine Figur, die sich herauskürzen lässt: eine Subsumtio * (Unterordnung):
Nach Entfernung dieser letzten figurativen Note, bleibt ein nicht weiter reduzierbares Gerüst stehen und offenbart die Grundstruktur der drei Takte von Gasparinis Komposition:
Als letzten Schritt von der Reduktion und Dekomposition hin zur tatsächlichen Modellbildung im Rahmen von Reverse Engineering kann man nun zum Beispiel noch die Oberstimme entfernen -
auf diese Weise erhält man eine unbezifferte Basslinie, die einem sehr kurzen Partimento, bzw. Ausschnitt aus einem Partimento ähnelt.
Ausgehend von der reinen Basslinie kann der Spieler unter Einsatz satztechnischen Wissens, seiner Erfahrung, Fantasie und Er-findungs-gabe die Komposition wieder herstellen (Phase drei,
Rekomposition).
Das dreitaktige Bassmodell (im Folgenden als „Partimentofragment“ bezeichnet), welches aus dem bisher durch Reduktion gewonnenen Gerüst gewonnen werden kann, lautet:
An diesem Punkt sind Phase eins und zwei, der Analyse-Teil, die Phase der Reduktion und Dekonstruktion sowie die Modellbildung abgeschlossen und das Feld der Synthese, der Kom-position (lat. componere: zusammesetzen, generieren) kann betreten werden.
Im kommenden Abschnitt werden daher Möglichkeiten des Wiederaufbaus im Rahmen von Phase drei - der Rekonstruktion / Rekomposition - erforscht.
Zur Erinnerung noch einmal das Partimentofragment in A-Moll:
Auf der Suche nach einer geeigneten Oberstimme kann das sogenannte „PIP-Prinzip“ (ein Terminus, der an der Schola Cantorum Basiliensis entstand und u.a. nachzulesen ist bei Holtmeier, Diergarten, Menke 2013) sehr hilfreich sein. Dieses Prinzip besagt, dass eine Komposition grundsätzlich mit einer perfekten Konsonanz (reine Quinte oder reine Oktave) beginnt, gefolgt von einer imperfekten Konsonanz (kl./gr. Terz oder kl./gr. Sexte).
Zum Abschluss folgt wieder eine perfekten Konsonanz. Die gesamte Abfolge „Perfekt-Imperfekt-Perfekt“ wird in diesem Fall als „PIP“ abgekürzt.
Um bei der Konstruktion der Oberstimme die Grundtonart (Dur oder Moll) des Stückes von Anfang an klar festzulegen, wäre die Terz ein geeignetes Mittel.
In der Zweistimmigkeit sollte laut „PIP-Prinzip“ jedoch nicht mit einer Terz begonnen werden (imperfekte Konsonanz).
Daraus ergibt sich, dass die Terz auf der zweiten Gerüst-/Bassnote angebracht werden sollte:
Ein besonders beliebtes Phänomen des barocken Kontrapunkts ist die Imitation.
Eine Möglichkeit wäre daher, zu prüfen, ob diese Technik an dieser Stelle Anwendung finden kann.
Gesucht wird zunächst also ein Motiv, eine Inventio (lat. Idee, Erfindung), die im folgenden Verlauf imitatorisch verarbeitet werden kann.
Die Inventio benötigt einen hohen Wiedererkennungswert und daher vor allem rhythmische oder melodische Prägnanz.
Um einen imitatorischen Bezug zur Unterstimme herzustellen, wäre es zunächst naheliegend, in dieser nach einer möglichen, geeigneten Ausgangsbasis für die Inventio zu suchen.
In diesem Fall biete sich die fallende Terz (a-f) als offensichtlichste Möglichkeit an:
Da die zweite Oberstimmen-Note bereits festgelegt wurde, aber noch keine Note für den ersten Schlag bestimmt ist, könnte man nun versuchen, die fallende Terz rückwirkend von der zweiten Note aus zu rekonstruieren.
Sollte sich dann eine perfekte Konsonanz zur Unterstimme auf dem ersten Schlag ergeben, erfüllt sich das „PIP-Prinzip“ und der Lösungsansatz mit der fallenden Terz als Grundidee würde funktionieren.
Idee der fallenden Terz als Ausgangsbasis für die Inventio:
Rekonstruktion:
Der Satz beginnt nun mit einer perfekten (reinen) Quinte, gefolgt von einer (imperfekten) kleinen Terz, welche die Haupttonart kennzeichnet. Gleichzeitig wird die imitatorische Struktur bedient - ein Dialog zwischen Ober- und Unterstimme entfaltet sich.
Der Lösungsansatz scheint also zu funktionieren!
Der nächste Schritt könnte nun darin bestehen, zu untersuchen, ob die soeben entwickelte und getestete Idee auch im weiteren Verlauf funktioniert.
Man könnte in diesem Sinn nach weiteren Terzsprüngen im Partimentofragment Ausschau halten und diese zunächst testweise in der gleichen Manier aussetzen.
Der Versuch, eine Lösung im Verlauf mehrfach anzubringen, dient nicht nur einem in sich schlüssigen und stilistisch gelungenem Aufbau, er erleichtert auch die weitere Aussetzung sowie praktische Umsetzung dadurch, dass bereits angewandtes Material beim Spieler schneller abgerufen werden kann. Gleichzeitig wird das Transponieren einer musikalischen Idee geübt.
Fallende Terzen in der Unterstimme:
Hypothetische, imitatorische Ergänzung:
Aussetzung:
Nach dem bisher verfolgten „PIP-Prinzip“ sollte das Stück mit einer perfekten Konsonanz enden.
Da in diesem Fall aber nur die ersten drei Takte eines Stückes rekonstruiert werden und das Stück an dieser Stelle noch nicht endet , wäre es ratsam, das vorliegende Partimentofragment zunächst auf einer imperfekten Konsonanz zu schliessen.
Da auf dem dritten Schlag bei den ersten zwei Takten eine Terz zwischen den zwei Stimmen entstanden ist und die Terz eine imperfekte Konsonanz ist, kann man diese Idee auch auf den dritten Takt übertragen.
Um die Logik des bisherigen Verlaufes weiterzuführen, könnte man nun versuchen, auch die vorhergehende Note wie bisher aufzufüllen (fallende Terz).
Mögliche Aussetzung des letzten Taktes:
Diese Aussetzung ist eine von mehreren möglichen Lösungen, überzeugt allerdings sofort durch innere Kohärenz und Logik und ist daher sowohl pädagogisch wertvoll als auch stilistisch angemessen.
Der abwärtsgerichteten Terz-Sprung, welcher in der entstandenen Aussetzung als Beginn und Grundidee fungiert, folgt den Stufen der Alt-Klausel (Abk. „AK“):
Damit das erarbeitete Bassmodell noch weiter und detaillierter ausgearbeitet werden kann, präsentiere ich im Folgenden einen kleinen von mir zusammengestellten und systematisch entwickelten Katalog rhythmischer und melodischer Variationsmöglichkeiten des fallenden Terzsprungs, die der barocken Tonsprache folgen und somit dem stilistischen Rahmen der Ausgangskomposition angemessen sind.
Der Katalog soll als Werkzeug und Ideengeber fungieren, erhebt dabei aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Das Partimentofragment lässt sich mit jeder der vorgestellten Variationstechniken diminuieren - sie unterscheiden sich allerdings durchaus im Grad ihrer stilistisch-ästhetischen Qualität.
Wendet man die Variation aus Takt 52 des Variationskataloges bei allen Terzsprüngen der Rekonstruktion und Aussetzung des Partimentofragments an, ergibt sich - im Sinne eines hundertprozentig zutreffenden Reverse Engineering - die originale Lösung Gasparinis. Es entsteht, wenn man so will - sogar ohne explizite Absicht - eine exakte Kopie der Vorlage durch die Technik des Reverse Engineering.
Diese Lösung bestätigt im Nachhinein also die Sinnhaftigkeit und stilistische Passgenauigkeit der durch kompositorisch-logische Überlegungen entstandenen Aussetzung.
Gleichzeitig wird die Sinnhaftigkeit und der potenziell enorm hohe pädagogische Nutzen der Anwendung der musikalischen Reverse Engineering-Technik mehr als deutlich.
Die folgende Abbildung verdeutlicht noch einmal zusammenfassend den Mechanismus des Musikalisches Reverse Engineerings.
Schema zur Verdeutlichung der Korrelation von Komposition und Satzmodell
im Rahmen des Reversing:
Abb.3: Panagiotis Linakis
Um den Bogen des Reverse Engineerings an dieser Stelle noch etwas weiter zu spannen, werde ich in diesem Abschnitt zeigen, wie man aus der bereits erarbeiteten Idee und Aussetzung eine eigenständige kleine Kompositionseinheit entwickeln kann.
Das aus der Vorlage extrahierte Modell soll in diesem Fall die Fantasie des Spielers noch weiter anregen und eignet sich aufgrund seiner imitatorischen, sequenzartigen Struktur hervorragend zu einer musikalischen Weiterspinnung.
Durch Transposition und Verarbeitung in der Ausarbeitung eines hypothetischen weiteren Verlauf des Stückes lässt sich das bisher erarbeitete Satzmaterial noch eingehender trainieren und auch für eigene, individuelle Entwürfe nutzen.
Bei der Entwicklung eigener „Designvarianten“ oder Weiterspinnungen der Vorlage entfaltet sich auf ganz natürliche Weise die Neugier, zu prüfen, wie die Original-Komposition verläuft und meist entsteht beim Vergleich der eigenen mit der originalen Fassung ein bis dahin unbekannter, frischer Blick auf das betreffende Stück.
Das allgemeine Gespür und Verständnis für Kompositionsentscheidungen und kompositorische Verläufe wird dadurch automatisch gestärkt.
Möchte man die schlichte kurze Basssequenz, welche aus dem ursprünglichen Stückausschnitt abgeleitet wurde, musikalisch wieder beleben und mit der erweiterten Rekonstruktion beginnen, sind Möglichkeiten gefragt, die Gerüstnoten erneut zu diminuieren.
Zur Erinnerung noch einmal das ursprüngliche aus den drei Original-Takten extrahierte Partimentofragment:
Die naheliegendste Möglichkeit und erste melodische Variation im von mir zusammengestellten Variationskatalog (siehe Takt 7) wäre die Ausfüllung der fallenden Terzen mittels eines Transitus:
Überträgt man diese Idee in die immitatorische Dialogizität der Zweistimmigkeit, ergibt sich folgende Aussetzung:
Um nun eine längere, in sich geschlossene Form zu erhalten, d.h. einen hypothetischen Fortgang des Stückes zu konstruieren, ist in dieser Phase der Erarbeitung die Hinzunahme der Stufen-Analyse unumgänglich.
Eine abgeschlossene musikalische Form benötigt am Ende eine Kadenz, möglichst in der Haupttonart. Darüber hinaus gilt es, einen Teil zwischen dem Ende des bisherigen Partimentos und der Kadenz zu er-finden.
Eine Möglichkeit, die sich in diesem Fall besonders anbietet, ist, die sequenzielle Struktur des bisher erarbeiteten Partimentofragments (Terzfall) aufzugreifen und die angefangen Sequenz bis zur Schluss-Kadenz zu verlängern.
Das folgende Beispiel zeigt das vollständige Partimento, welches entsteht, wenn die Sequenz verlängert und eine Schlusskadenz angefügt wird inklusive Stufenanalyse:
Übertrag in die Zweistimmigkeit:
Ab der Mitte des zweiten Taktes wird eine kontinuierliche 3-6-3-6-Bewegung zwischen den beiden Stimmen offenbar, die in Gegenbewegung (motus contrarius) verläuft und von zahlreichen Theoretikern der Barockzeit als die schönste Bewegungsart dargestellt wird.
Es handelt sich hierbei um eine Konsekutivkette, spezifischer: die 3-6-Konsekutive:
Um dem Spieler den spontanen improvisatorischen Umgang mit der vorliegenden Konsekutivkette am Instrument zu ermöglichen, wird im nächsten Abschnitt ein Variations- und somit auch technisches Griff-Vokabular zur 3-6-Konsekutive vorgestellt, welches separat geübt werden kann.
Damit später mit dem Modell tatsächlich praktisch improvisiert werden kann, ist es essentiell, die verschiedenen Variationsmöglichkeiten, die teils technisch durchaus anspruchsvoll sind, eingehend - und auch in Transposition - zu üben, um sie bei Bedarf nach Wahl sofort abrufen zu können.
Das Satzmodell der abwärtsgerichteten 3-6-Konsekutive, welches im Rahmen des bisherigen Reverse Engineering-Prozesses herausgearbeitet wurde, lässt sich wiederum mittels Reverse Engineering analysieren, reduzieren, rekonstruieren und anschließend in verschiedenen Designvarianten ausarbeiten.
Ziel dieser Erweiterung des Reverse Engineering-Prozesses auf das Modell an sich ist, dass der Anwender aus einer ursprünglichen Vorlage so viele Erkenntnisse und Erfahrungen wie möglich gewinnen kann und ihm somit die Erweiterung seiner künstlerischen, satz- und spieltechnischen improvisatorischen Palette ermöglicht wird.
Zur Erleichterung des Verständnisses wird die vollständige 3-6-Konsekutive im Folgenden in C-Dur dargestellt.
Betrachtet man sie in der Vertikalen, lassen sich abwechselnde Terzen und Sexten beobachten:
In der horizontalen Betrachtung wird eine kanonische Terzstruktur sichtbar:
Ebenso ist eine kanonische Sekundstruktur zu beobachten:
Bei näherer Betrachtung der Vertikalen lässt sich feststellen, dass die Oberstimme eine durchgängig mittels Superjectio figurierte Linie darstellt:
Kürzt man die Figur der Superjectio aus der Oberstimmenlinie durchgängig heraus, erhält man eine schlichte, stufenweise abwärtsgerichtete Tonfolge:
Ähnliches ist bei der Unterstimme zu beobachten. Diese lässt sich als durchgängig mittels Subsumptio figurierte, stufenweise abwärtsgerichtete Linie betrachten:
Unterstimme ohne Subsumtio-Figurationen:
Darstellung der 3-6-Konsekutive als zweistimmige mittels Superjectio und Subsumptio figurierte Form:
Setzt man Unter- und Oberstimme in unfigurierter Form aufeinander, entsteht eine parallele Terzenbewegung:
Dieses durch Analyse und Dekomposition/Reduktion (Schritt 1) erhaltene absteigende Terzenmodell (Modellbildung als Schritt 2) liesse sich nun wieder mittels Figuration (durch Superjectio und Subsumptio) im Rahmen des vollständigen Reverse-Engineering-Prozesses in die ursprüngliche 3-6-Konsekutive verwandeln (Rekomposition, Schritt 3).
Hier finden Sie den link zur Übung der 3-6-Konsekutive, in der zahlreiche mögliche „Design-Varianten“ mit progressivem Schwierigkeitsgrad vorgestellt werden.
In dieser Übungssequenz wird das bisher Erarbeitete kombiniert, indem die Anwendung der im Rahmen dieser Arbeit aufgezeigten möglichen „Designvarianten“ der fallenden Terz sowie der fallenden 3-6-Konsekutive im Kontext des erarbeiteten sechstaktigen Partimentos exemplarisch gezeigt wird.