Das bisher entwickelte sechstaktige Partimento lässt sich ohne grossen Aufwand auch zu einer kleinen, vollständigen Komposition ausweiten.
Das einfachste Mittel, um eine kompositorische Idee eingehend zu verarbeiten und während des Improvisierens Zeit für die Planung des weiteren Verlaufes zu schaffen, ist, das betreffende Satzmaterial schlicht zu transponieren.
Die intensive Übung eines Satzmusters in allen Tonarten sowie unterschiedlichen „Designvarianten“ bildet die technische Voraussetzung zur späteren automatisierten Umsetzung, die wiederum Freiräume und geistige Kapazitäten für die synchron ablaufende weitere Planung des kompositorischen Verlaufes während der Improvisation schafft.
Im folgenden Notenbeispiel wird exemplarisch eine Möglichkeit der Ausweitung des vorherigen sechstaktigen Partimentos demonstriert, in dem dieses, wie bereits vorgeschlagen, einfach transponiert wird - in diesem Fall in die Subdominante. Es sind nur wenige Veränderungen nötig; so habe ich z.B. den Leitton in Takt 6 verändert, um zur Subdominante zu modulieren. Von dort aus wird nach dem Copy-paste-Prinzip gearbeitet - lediglich die Endungen der Konsekutivkette, bzw. die Kadenzen unterscheiden sich.
Das bisher Präsentierte kann als Studie zur Entwicklung einer musikalischen Idee aus einer gegebenen Komposition, einem gegebenen Satz-Gerüst, einem musikalischen Modell verstanden werden.
Um die angeregte Ausarbeitung auf den Gipfel zu treiben und zu einem endgültigen und schönen Abschluss zu führen, kann man als letzte Stufe das bisher erarbeitete Material zu einer vollständigen, eigenständigen Komposition ausarbeiten.
Unter Verwendung einiger weiterer grundlegender kompositorischer Mittel (z.B. weitere Transpositionen und Modulationen, das Einfügen kurzer Überleitungen, Einsatz eines Orgelpunktes) entsteht bereits ein kleines Präludium, welches im folgenden Beispiel präsentiert wird.
Das Präludium dient an dieser Stelle also als exemplarischer Ausblick auf weiterführende Möglichkeiten, welche die bisher vorgestellten Inhalte durch weitere Transposition und kleine kompositorische Erweiterungen für die reale improvisatorisch-künstlerische Praxis verwendbar machen.
Es steht dem Spieler nun frei, zur Übung verschiedene „Designvarianten“ (Figurationstechniken aus den vorherigen Übungskatalogen) auf das Präludium anzuwenden.
Das folgende, anders figurierte Beispiel dient als weitere Anregung.
Im Folgenden wird eine technisch anspruchsvollere Version der Komposition dargestellt, die - im Gegensatz zu den vorigen Beispielen - nicht vollständig ausgearbeitet ist und so zum eigenständigen Weiterführen anregen soll.
Es wird empfohlen, zunächst den notierten Teil des Stückes mehrfach langsam zu spielen und eingehend zu studieren. Es geht darum, die Grund-Variationsidee zu analysieren, zu verinnerlichen sowie anschließend - soweit als möglich - den Ablauf des gesamten Stückes mental zu planen, d.h. im Kopf verschiedene Möglichkeiten der Weiterführung durchzuspielen. Diese Aufgabe richtet sich an fortgeschrittene Spieler und bedient sich der Grundlage des bisher vermittelten Wissens.
Die Erstellung einer „mentalen Landkarte“, auf welcher die anzuspielenden Stufen und der grobe Verlauf des Stückes skizziert sind, hilft enorm für die spätere Ausführung am Instrument. Eine schriftliche Skizzierung ist darüber hinaus, besonders bei geringer Erfahrung auf diesem Gebiet, sehr zu empfehlen.
Nachdem man sich klar ist, wie der vollständige Ablauf funktionieren könnte, versucht man, das ganze Stück langsam durchzuspielen.
Durch Übungen dieser Art wird eine Form des Stegreifspiels, der ad-hoc-Improvisation vorbereitet, die später im Konzertleben, d.h. auf der Bühne eine spannende und beeindruckende Technik darstellen kann und im Repertoire eines Musikers nicht fehlen sollte.
Sie regt das bewusste Verarbeiten musikalischer Strukturen, das Denkvermögen, die schnelle Umsetzung von Ideen sowie die spielerische Fantasie an und ermöglicht es dem Spieler, in persönlichen Kontakt mit dem Publikum zu treten. Bei ausreichender Übung und Erfahrung ist es möglich, ein spontan aus dem Publikum gegebenes Thema improvisatorisch zu verarbeiten, eine musikalische Idee direkt auf der Bühne, gleichsam „unter den wachsamen Ohren des Publikums“ weiterzuentwickeln.
In solchen Fällen ist es aufgrund mangelnder Zeit zur intensiven Vorbereitung notwendig, bereits geübte, fertige Verarbeitungs-Bausteine (Kadenzen, Sequenzen, Variationsmuster, Transpositionen) und mögliche grobe Verlaufsskizzen (Grundtonart, kleine Modulation, Rückkehr in die Haupttonart etc.) abrufbereit im mentalen und spieltechnischen Repertoire zu haben.
Die Auseinandersetzung mit musikalischem Reverse Engineering oder historischen Partimenti (die, wenn man so will, ebenfalls eine Form von Reverse Engineering darstellen) bietet hier eine äußerst hilfreiche, pädagogisch sinnvolle und geradezu unvermeidliche Grundlage zur Aneignung des notwendigen „Werkzeugs“.
Die Arbeit wird aber auch all jenen empfohlen, die weniger auf Improvisation zielen, dafür aber ihr kompositorisch-analystisches Verständnis und damit auch ihre Interpretationsfähigkeiten erweitern wollen oder einfach einen möglichst authentischen und direkten Zugang zur Musik vergangener Jahrhunderte suchen.
Bei der vorgestellten multidimensionalen Arbeitstechnik des Reverse Engineering und der damit verbundenen kreativ-improvisatorischen Erarbeitung werden mehr Bereiche im Gehirn angesprochen und Fertigkeiten trainiert als beim reinen Interpretieren oder Analysieren von Musik. Blattspiel, Analyse, Grifftechnik, Diminutionstechnik, Transposition und Kreativität werden in einem umfassenden Arbeitsprozess vereint, der sich als musikalisches Reverse Engineering bezeichnen und für die Arbeit mit historischen Kompositionen in jeder Hinsicht bereichernd und gewinnbringend ist.