„Ἀρχὴ ἥμισυ παντός“
„Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen.“
(Aristoteles)
Allgemeine Gültigkeit besitzt dieses Zitat für viele Tätigkeiten im Alltagsleben.
Für die Improvisation oder Komposition im barocken Stil ist es von besonderer Bedeutung.
Der barocke Satzstil ist gekennzeichnet von Kontrapunktik und der imitatorisch - figurativen Arbeit, die sich - namentlich in Inventionen oder Fugen - auf das sogenannte „Soggetto“, das musikalische Thema, stützt.
Das Thema an sich bildet Anfang und Ausgangspunkt, sowie Bezugspunkt für das folgende kompositorische oder improvisatorische Geschehen und ist somit in seiner Qualität als „Inventio“ (lat. für: Erfindung) maßgebend für das gesamte Werk - wie u.a. bei den Inventionen und Sinfonien BWV 772-801 von Johann Sebastian Bach.
„Doch soll der Anfang noch mehr leisten, als sich Aufmerksamkeit zu erzwingen: Er muß einen Maßstab setzen für Erwartungen, einen Horizont des Möglichen abstecken, das Idiom entwerfen.“ (Alfred Koerppen)
Der Anfang eines Stückes ist aber oft nicht nur „die Hälfte des Ganzen“ im Sinne eines satztechnischen oder akustischen Kennzeichens und Ankers, eines stilistisch - thematischen Ausgangspunkts für Komponist und Improvisator, für Spieler und Hörer; er ist als Konsequenz dessen zugleich auch oft die (schwierigere) Hälfte der Arbeit.
Der Prozess der Entwicklung eines guten Themas und musikalischen Anfangs nimmt - gerade beim Improvisieren - eine wichtige Rolle ein. Das Anfangen die erste große Hürde.
Wie fängt man ein barockes Stück an?
Welche Richtlinien und Modelle, auf die man hierbei zurückgreifen kann, stehen zur Verfügung?
In diesem Abschnitt soll es darum gehen, ein Modell zu erlernen, dass zu Beginn einer barocken Improvisation genutzt werden kann, um das Stück zu „eröffnen“, ein sogenanntes Eröffnungsmodell (in den kommenden Abbildungen. Abkürzung „EM“).
Es gibt zahlreiche Modelle, die zur Eröffnung in Frage kämen und als „Bauelemente“ und „Handwerkszeug“ in die Werkstatt eines jeden Improvisators gehören.
An dieser Stelle wird exemplarisch eines der möglichen Eröffnungsmodelle präsentiert, das zahlreich in vielen Erscheinungsformen in der barocken musikalischen Literatur zu finden ist und einen gewissen Bezug zu den Themenbereichen Synkopation und Vorhaltsauflösung aus den auf dieser website vorgestellten Übungen (z.B. der "2-x-Konsekutive") hat.
In diesem Modell spielt die synkopisch vorbereitete Sopranklausel (in den Abbildungen als Abk. „SK“) in der Unterstimme eine entscheidende Rolle. Der durch die Sopranklausel entstehende Kadenzcharakter des Eröffnungsmodells markiert gleich zu Anfang die Grundtonart und ermöglicht in der Oberstimme (in der Zweistimmigkeit) die Entwicklung eines kurzen, in sich abgeschlossenen Themas, das sich improvisatorisch leicht verarbeiten lässt.
In dieser Abbildung wird das Modell dreistimmig als Bassverlauf mit Generalbassbezifferung dargestellt.
Kennzeichnend für dieses Eröffnungsmodell ist - neben der Synkope und der Sopranklausel im Bass - besonders der Sekundakkord auf dem betonten ersten Schlag des zweiten Taktes.
Es handelt sich hierbei um einen dissonanten Akkord, der - neben der Sekunddissonanz - die Quarte (entstehend aus der Austerzung der Sekunde) als Dissonanz verwendet und prinzipiell zahlreiche verschiedene Auflösungsmöglichkeiten bietet.
Da aus methodischen und platztechnischen Gründen an dieser Stelle nicht alle Stimmführungsregeln und Auflösungsmöglichkeiten im Detail erläutert werden können, wird die Quarte als Füllstimme nicht weiter behandelt und herkömmlich in die Sechste aufgelöst (Gegenbewegung zum Bass).
Die zunächst dreistimmige Darstellung des Modells aus Bass und Generalbassbezifferung erleichtert das harmonische Verständnis und fördert den späteren Wiedererkennungswert in der musikalischen
Literatur.
Darüber hinaus werden Wege in die dreistimmige Improvisation eröffnet, die implizit aber auch eine größere Palette an möglichen Stimmführungen für die zweistimmige Ausführung schaffen: Der das
Modell im Kern definierende Bass kann später wahlweise mit der Sopran- oder Tenorstimme kombiniert werden.
In den folgenden Notenbeispielen werden einige Auflösungsvarianten der Sekunde im zweistimmigen Modell gezeigt sowie die hier relevante Quartauflösung separat dargestellt.
Die Beispiele sollen auch in Umkehrung geübt und durch den gesamte Quintenzirkel transponiert werden!
Einige Auflösungen mögen auf den ersten Blick in der Zweistimmigkeit ungewöhnlich erscheinen,
sind jedoch im Kontext der späteren Drei- und Mehrstimmigkeit gedacht und zu verstehen.
Es ist in Hinblick auf die spätere Mehrstimmigkeit wichtig, auch diese Lösungen in die Finger zu bekommen.
In der folgenden Übungssequenz werden die Auflösungen der Sekunde und ihre Umkehrungen zweistimmig trainiert.
Anhand des ersten Partimentos von Giovanni Tritto sowie des achten Partimentos aus dem „Libro quatro" von Fedele Fenarolli wird das Eröffnungsmodell im Kontext geübt.
Anschliessend werden einige Beispiele aus der Literatur gezeigt, um das Modell in noch mehr Facetten in die Finger und den Kopf zu bekommen.
Alle Beispiele sollten auch transponiert geübt werden.
Die Arbeit mit zwei Melodieinstrumenten ist ebenfalls möglich!
Verwendete Abkürzungen:
SK - Sopranklausel / Diskantklausel
AK - Altklausel
TK - Tenorklausel
BK - Bassklausel
EM - Eröffnungsmodell